Es wird langsam kalt. Die Dämmerung bricht herein und ich stapfe missmutig durch den frisch gefallenen Schnee. Mein Sohn hat sich auch müde gelaufen und sich in den Kinderwagen geflüchtet. Warm und weich hat er es da in seinem Daunensack, aber auch er weiß nicht so recht was er hier draußen soll. Ich brauche ein Ziel, einen Kaffee, einen guten. Das ist mein einziger Orientierungspunkt. Aber wir finden keinen Platz in der Herberge. Ich habe schon meine gewohnte Strecke durch den gentrifizieren Teil des Wedding abgelaufen, in den ich mich manchmal flüchte. Aber alle Cafes sind zu. Es ist der Tag nach den Heiligen drei Königen. Anscheinend sind all die schicken jungen Leute, die sonst hier ihren Latte schlürfen noch bei ihren Eltern in Westdeutschland. Oder zum Skifahren oder sonstwas Wunderbarem. Nur ich laufe hier rum, allein mit Kind und Wagen und es wird immer dunkler. Ein wild gestikulierender Mann kommt uns entgegen. “ Ist doch alles total Scheiße hier.“ schreit er um sich, wissend, dass niemand seine Wut hört. „Alles total runtergekommen, hier. Du auch, du Arschloch“. Er schaut mich dabei nicht an, trampelt weiter, flucht irgend etwas anderes. Aber zum Beleidigen findet er keinen mehr. Die Straßen bleiben leer. Und mir reichts jetzt. Ich will jetzt was Warmes, Licht, ein freundliches Gesicht. Aber selbst das türkische Cafe „Schneeglöckchen“ an der Ecke holt gerade den Mülleimer rein. Bleibt nur der neonkalte Späti, in dem sich zwei traurige Gestalten an einem Stehtisch festhalten. Nein, da will ich nicht rein. Da gehöre ich noch nicht dazu. Es muss etwas Anderes geben. In mir keimt eine winzige Hoffnung. In Gefahr und großer Not muss man gewohnte Wege verlassen und sein Glück wagen. Also drehe ich den Wagen um die Ecke in eine dunkle, noch nie gegangene Straße. Irgendwo da hinten, hinter dem leeren Platz ist ein Studentenwohnheim. Das muss es doch… Mein Sohn wirft gelangweilt seinen Handschuh in den Schnee. Und als ich mich bücke sehe ich im Augenwinkel große, warm leuchtende Schaufenster, Tische davor. Etwas in mir will an das Glück glauben. Mit dem letzten Fünkchen Hoffnung drehe ich auf die ferne Lichtinsel ein. Zweifel machen sich breit: Vielleicht ist es doch bloß ein blöder Designshop, oder wenn es ein Cafe ist, ist wahrscheinlich ist die Tür schon zu – zu für dich! höhnt der Kafka in meinem Kopf. Zum Glück habe ich noch meinen Bauch. Und der macht die Tür auf und weiß, dass er zu Hause ist: Hohe Räume, eine festlich geschmückte Vitrine, kleine Tische, Pärchen beim gepflegten Schweigen. Ich pflücke meinen Sohn aus seinem Wagen und freue mich daruf, langsam aufzutauen, den Schnee auf dem Mantel schmelzen und abperlen zu lassen. Die Bedienung ist freundlich und adrett. Es gibt östereichischen Strudel, liebevoll mit Zucker überpudert und einen Milchkaffee ohne Schaum. Mein Sohn sitzt still auf meinem Knie, kriegt leuchtende Augen und wir teilen den Kuchen – eins für ihn, eins für mich. Und plötzlich laufen mir die Tränen. Ich schau das blonde Knäblein an und kanns gar nicht glauben, dass der strahlende Kleine mit den roten Winterbacken meiner ist. Dass ich hier mit ihm sitzen darf, und diese Stunde mit ihm verbringen kann. Dass ich so viel Glück habe. Wir bestellen noch einen Kuchen und ich könnte ewig hier sitzen bleiben.
Als wir raus kommen, hat es weiter geschneit. Der Kinderwagen ist eingepudert wie der Strudel. Mein Kleiner läuft ein Stück an meiner Hand. Stapft ungläubig im Schnee – heute ist der erste Tag in seinem Leben, an dem er im Schnee laufen kann. Die Straße ist immer noch leer und still aber das Licht der Gaslaternen leuchtet warm auf uns. Es würde mich nicht wundern, wenn auf einmal der Weihnachtsmann auf seinem Schlitten angeschwebt käme und und neben uns landete, die Leute freundlich lachend aus den Häusern kämen und sich umarmten. Weil heute so ein wunderbarer Tag ist – mitten in Berlin.
lieber herr eimaeckel, da hast du eine herzerwärmende geschichte geschrieben. war ja doch noch irgendwo ein lichtlein in der stadt für euch beide. 🙂 sehr schön. einen schönen tag, wünsche ich dir, mitten in berlin.
LikeGefällt 2 Personen
Man braucht manchmal Geduld hier, bevor es dann charmant wird.
LikeGefällt 1 Person
[…] Der Mensch, der mir einmal die wunderbare Bezeichnung „offene Miniatur“ unter einen Teil des Stadtpoems geschrieben hat erzählt uns auf seinem Blog eine wundervolle Winter-Vater und Sohn-Geschichte. […]
LikeGefällt 1 Person
Einer dieser Momente, wo alles in sich auf den richtigen Platz zusammenfällt und Sinn macht. Schön. Wenn es nicht so selten wäre … aber vielleicht müssen Geschenke selten sein?
Liebe Grüße
Christiane
LikeGefällt 3 Personen
Ja, muss wohl so sein. Ist halt Leben und nicht Nirvana. Aber wichtig für mich ist, dass ich diese kleinen Momente wieder mitbekomme, und nicht alles im Grau in Grau versinkt.
LikeGefällt 2 Personen
Ich sehe solche Momente als Geschenke an und freue mich irrsinnig darüber. Ob groß oder klein … wer will da richten?
LikeGefällt 1 Person
Genau so ist das Leben.
Viele, kleine, wunderbare, kostbare Augenblicke, die einem dieses große Geschenk, auf der Erde sein zu dürfen, bewusst machen.
LikeGefällt 2 Personen
Und das Schönste ist, wenn diese Momente unerwartet kommen. Die Engländer haben ein eigenes Wort dafür: serendipity, die Gabe, zufällig glückliche und unerwartete Entdeckungen zu machen.
LikeGefällt 2 Personen
Das Glück, das Du in der Gegenwart und beim Anblick Deines Kindes empfindest ist so wärmend, dass es bis hierher strahlt.
Eine schöne Geschichte vom Suchen und vom Finden.
LikeGefällt 1 Person
Danke! Ich wärme mich an deinen Geschichten auch manchmal, einfach weil so viel trotzige Lebenskraft rüber kommt.
LikeGefällt 1 Person
Hat dies auf Out of The Box rebloggt und kommentierte:
Wem der Januar zu bäh ist: Diese kleine Vater-Sohn-Geschichte wärmt wieder auf.
LikeGefällt 1 Person
[…] Sparrplatz gibt es kleine Wunder. Kafka on the Road weiß von einem in einer kleinen Geschichte zu berichten, die mein Herz erwärmt haben und mich […]
LikeGefällt 1 Person