Vanitas vanitatum

Also heute Nachmittag in dem kleinen Eiscafe neben der Charité. Ich will mein Wochenende einläuten und den blauen Himmel mit einem Eis feiern. Da steht vor mir in der Schlange diese Berliner Musterfamilie. Er, Anfang 30, bisschen aufgedunsen, mit rasiertem Schädel unter so einem albernen Roger Cicero-Hut, Hosen hängen in den Kniekehlen, Kopfhörer um den Nacken… Typischer Hipster aus Mitte halt. Und natürlich ist das Töchterlein auf seinem Arm blond, hat Zöpfe und ein süßes rotes Mäntelchen an. Und die Mama dazu, so unglaublich geschmackvoll nachlässig gekleidet, dass es weh tut, tanzt lächelnd um ihren Goldengel herum. Und was bestellen sie? Natürlich Frozen Joghurt – das Trend-Eis von vor drei Jahren. Ich hab’s eilig – und die? Können sich nicht auf das Topping einigen, albern affektiert herum. Können sich die Affen nicht ne Bühne kaufen und sich draufstellen? Mann, gehen die mir auf die Nerven. Endlich bezahlt der Vater-Darsteller. Fingert ein bisschen ungeschickt mit dem Portmonee, weil seine Hand mit weißer Schlauchgaze verbunden ist. Ich schau noch mal hin und entdecke eine Kanüle unter dem Verband. Au weia! Stopp! Zurück! Halt! Ganz anderer Film!  Das ist kein Affentheater, das ist ein Drama, das sich hier abspielt. Der Typ kommt natürlich aus der Charité, wahrscheinlich frisch von der Chemotherapie. Deswegen hat er auch keine Haare. Die sind nicht rasiert-die sind ausgefallen. Jetzt seh ich’s ganz deutlich. Oh Gott, deswegen die lauen Scherze mit seiner Frau. Er versucht seine verzweifelte Familie aufzuheitern, in einer kurzen Pause zwischen zwei sicher mörderischen Therapiesitzungen den beiden ein wenig die Beklommenheit zu nehmen. Und das Töchterchen? Weiß es schon, dass es vielleicht die letzten fröhlichen Stunden mit ihrem geliebten Papa sein können, bevor sie ihr Leben als Halbwaise verbringen muss, bei einer alleinerziehenden Mutter, die es kaum schafft, über den Verlust hinweg zu kommen und….? Und diese armen Menschen habe ich hochmütig gemustert, still verflucht und sie der Eitelkeit geziehen? Oh Mann, fühle ich mich schlecht. Als sie endlich aus meinem Blickfeld sind  bestelle ich mir als Buße  auch einen Frozen Joghurt mit einem extra sauren Topping.

5 Gedanken zu “Vanitas vanitatum

  1. Ich hatte auch mal so eine Schrecksekunde, als ich ein an der Kasse vor mir stehendes Paar abschätzig beäugte, die Klamotten, naja, so als Hells Angels für Arme verkleidet. Dann drehte er sich zur Seite und ich sah, dass sein Gesicht völlig entstellt von einer großflächigen Brandnarbe war. Hab ich mich auch geschämt.

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    • Das verstehe ich eigentlich nicht so richtig. Kein Grund Dich zu schämen, finde ich. Schlechter Geschmack und Brandverletzung hängen ja nicht ursächlich zusammen. Deswegen kann man die Klamotten immer noch hässlich finden und die Brandverletzung bedauerlich. Leid adelt doch nicht grundsätzlich Menschen. ich bin sogar überzeugt, dass der Mann, hätte er mibekommen, dass Du seine Meinung über ihn aufgrund seiner Brandverletzung geändert hast das gar nicht gut gefunden hätte.

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  2. Ich hab lange überlegt ob ich dir einen Kommentar dazu dalassen soll, weil ich es aus zwei Perspektiven kennen und das Gefühl hatte, dann wird es etwas „off-topic“ (b), aber beides von dieser Woche, passiert:

    a) Es gibt Menschen, die glauben, weil ich auch immer mal wieder „Opfer“ (ich weiß nicht wie man es richtig sagt) solcher Vorurteile bin könne mir so was nicht passieren. Kann es doch und das ist mir dann genau so unangenehm wie es allen anderen auch ist oder wenigstens sein sollte. Folgende Situation: Bus – ein Mann, der eindeutig besser zu Fuß ist als ich geht durch die Reihe, zeigt seinen Schwerbehindertenausweis und bittet immer wieder Leute ob sie für ihn aufstehen könnten, er könne nicht mehr. Mich hat er nicht gefragt und ich hatte einen Sitzplatz (obwohl ich es auch kenne, dass niemand mir Platz macht, wenn es keine Plätze mehr gibt und ich frage nur dann wenn es nicht mehr anderes geht), aber ich hatte im Kopf Warum kann der nicht stehen?. Zumal er sagte, er müsse nur drei Stationen. Keiner stand auf. Er also in eine Ecke gegangen und stellte seine Tasche ab, in dem Moment sah ich, der hatte den ganzen unteren Arm voll mit Karposi, wird also sehr wahrscheinlich AIDS im schon fortgeschrittenen Stadium haben und starke Medikation bekommen. Ich weiß aus Erfahrung wie kaputt einen Schmerzmittel bekommen können. In dem Moment in dem ich merkte, der ist wahrscheinlich so fertig, dass ihm die drei Stationen wie dreißig vorkommen hab ich mich geschämt für meinen Gedanken.

    b) Im Supermarkt stürzt eine Seniorin mit Gehstock. Ich bin einen Meter entfernt. Aber: Ich kann nicht helfen. Ich kann mich nicht bücken ohne selber zu fallen, und damit schade ich ihr vielleicht noch, nicht zuletzt mir. Das sage ich auch. Um mich herum: „Ja, ja, die jungen Leute, alle faul…“ – „Die haben es heute mit dreißig alle im Kreuz…“ – „Nur keinen Handschlag…“ Der Frau wurde geholfen, zumm Glück und dann zuckelte die ganze Prozession an mir und meinem Einkaufswagen vorbei. In dem Wagen lag mein eigener Stock. Jemand: „Die kann wirklich nicht, hat selber einen Stock…“

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